Was sind Grundrechte und woher kommen sie?

von RA i. R. Mario Schmid

 

Grundrechte sind gegen den Staat gerichtete Fundamentalrechte des Bürgers (MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON). Oder, wie wir an anderer Stelle lesen, die Rechte des Einzelnen gegenüber Inhabern öffentlich-rechtlicher oder gesellschaftlicher Macht (Reader’s Digest UNIVERSAL LEXIKON), also Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat

 

Die Grundrechte sollen im Wesentlichen dreierlei verhindern: 

 

  1. dass der Staat Bürger[1] oder die Freiheit von Bürgern verletzt,[2]
  2. dass der Staat einzelne gegenüber anderen benachteiligt (Ungleichbe­handlung)[3] und 
  3. dass der Staat Bürger dazu zwingt, sich selbst Gewalt anzutun[4].

 

Ich unterscheide zwischen unveräußer­lichen Menschenrechten und anderen Grund­rechten[5].

 

Woher kommen die Grundrechte?

 

Die Frage nach dem Ursprung der Grundrechte ist eng mit der Frage nach dem Ursprung des Staates verknüpft, der für sich beansprucht, über Menschen herrschen zu dürfen. Der Staat wird von Menschen geführt, und dass Menschen über Menschen herrschen dürfen ist nicht selbstverständlich, denn alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren[6]. Aus dieser Freiheit und Gleichheit aller Menschen folgt zwingend, dass ein Recht des Staates, von Bürgern ein Tun, Unterlassen oder Dulden zu fordern (Herrschaftsanspruch) nur in einem Vertrag gründen kann, in dem ein Herrscher bestimmt wird und dem ausnahmslos alle zustimmen (Gesell­schaftsvertrag). Der Gesellschaftsvertrag ist diejenige stillschweigende Übereinkunft aller Bürger eines Staates, die den Staat begründet. In ebendiesem Gesellschafts­vertrag verpflichtet sich der Herrscher, die Bürger und ihre Freiheit nicht zu verletzen, einzelne gegenüber anderen nicht zu bevorzugen oder zu benachteiligen und Bürger nicht dazu zu zwingen, gegen sich selbst Gewalt anzuwenden. Würde sich der Herrscher hierzu nicht verpflichten, würden nicht alle dem Gesellschaftsvertrag zustimmen und niemand würde herrschen dürfen. Wir können also sagen, Grundrechte sind Rechte, die im Gesellschaftsvertrag den Bürgern vorbehalten sind.[7].

 

Aber wozu schließen freie Menschen den Gesellschaftsvertrag und bestimmen einen Herrscher? 

 

Menschen schließen den Gesellschafts­vertrag, weil sie den Naturzustand beenden wollen, um gut und sicher zu leben. 

 

Aber warum wollen Menschen den Naturzustand beenden? Leben sie im Naturzustand nicht im Paradies? Nur solange es weit und breit nicht mehr als ein Paar gibt. Seit die von der Natur bereitgestellten Lebensmittel knapp geworden sind, ist der Naturzustand ein Leben in täglicher Konkurrenz um Nahrung, ein Zustand, in dem der Stärkere herrscht und der Schwächere untergeht. Aber auch die Starken leben im Naturzustand in ständiger Furcht, sie könnten bald einem noch stärkeren unterliegen. Wahrlich das genaue Gegenteil eines paradiesischen Zustandes.

 

Mit der Zustimmung zum Gesellschafts­vertrag wollen die Menschen den Naturzustand beenden, aber wie erreichen sie, dass alle gut und in Sicherheit leben können?

 

Erste Voraussetzung für ein gutes Leben aller in Sicherheit ist Frieden, das heißt, keiner darf gegenüber einem anderen Gewalt anwenden. Jeder verpflichtet sich deshalb im Gesellschaftsvertrag, nieman­dem gegenüber Gewalt anzuwenden. Ein solcher Friede ist aber zerbrechlich, solange niemand darüber wacht, dass er eingehalten wird, denn wir sind von Natur aus dazu geschaffen, erforderlichenfalls Gewalt anzuwenden, um zu bekommen, was wir haben wollen (z.B. Nahrung). Der Philosoph Jean Jacques Rousseau hat es so formuliert: Die vornehmsten Pflichten des Menschen sind die gegenüber sich selbst, weil sein vornehmstes Gesetz in der Erhaltung der eigenen Existenz liegt[8]. Weil die Menschen um diese Neigung und die daraus resultierende Zerbrechlichkeit des Friedens wissen, beauftragen sie im Gesellschaftsvertrag einen Herrscher damit, über die Einhaltung des vereinbarten Gewaltverzichts zu wachen und statten ihn mit denjenigen Mitteln (Waffen) aus, die er benötigt, um den vereinbarten Gewaltverzicht ihnen gegenüber durchzusetzen, sollten sie ihn brechen.

 

Gewaltverzicht aller ermöglicht aber noch kein Leben in Sicherheit. Der Mensch braucht auch etwas zu essen und im schlimmsten Fall hindert ihn sein Gewaltverzicht daran, es zu bekommen. Unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Menschen auf Gewalt gegenüber Mitmenschen verzichten, ist deshalb ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Deshalb verpflichtet sich der Herrscher im Gesellschaftsvertrag jedem Bürger gegenüber, für dessen soziale Sicherheit zu sorgen, wenn er nicht selbst für sich sorgen kann.

 

Darüber hinaus sind Menschen nur dann bereit, auf Gewalt in Form von Rache zu verzichten, wenn sie wissen, dass eine höhere Gewalt ihnen zu ihrem Recht verhilft, wenn ihnen Unrecht geschieht. Deshalb verpflichtet sich der Herrscher im Gesellschaftsvertrag, Recht zu sprechen und damit denjenigen Bürgern zu ihrem Recht zu verhelfen, denen Unrecht geschieht. 

 

Gewaltverzicht, soziale Sicherheit und Rechtsprechung allein führen aber immer noch nicht zu einem guten Leben aller in Sicherheit. Sicherheit erfordert auch einen wirksamen Schutz vor Angriffen von außen. Um auch vor Angriffen von außen sicher zu sein, beauftragen die künftigen Bürger im Gesellschaftsvertrag den Herrscher auch mit ihrer Verteidigung.

 

Gewaltverzicht, soziale Sicherheit, Rechtsprechung und Verteidigung gegen Angriffe von außen ermöglichen den Bürgern ein Leben in Sicherheit. Aber was benötigen sie darüber hinaus für ein gutes Leben? Für ein gutes Leben aller muss das Wohlergehen aller[9], das sogenannte Gemeinwohl, gefördert werden. Um ihrem Ziel entsprechend künftig in Sicherheit gut leben zu können, beauftragen die Bürger im Gesellschaftsvertrag den Herrscher auch mit der Mehrung des Gemeinwohls.

 

Wir können also sagen, die angehenden Bürger stimmen dem Gesellschaftsvertrag zu, bestimmen damit einen Herrscher und gründen so einen Staat zu dem Zweck

 

  1. über die Einhaltung des zwischen ihnen vereinbarten Gewaltverzichts zu wachen,
  2. für soziale Sicherheit zu sorgen,
  3. dem Recht Geltung zu verschaffen,
  4. sie gegen Angriffe von außen zu verteidigen und
  5. das Gemeinwohl zu fördern.

 

Insoweit spreche ich von den fünf Staatszwecken. Ihre Zustimmung geben die angehenden Bürger aber nur unter dem Vorbehalt, dass der Herrscher ihre Grundrechte achtet, das heißt, sie und ihre Freiheit nicht verletzt, einzelne Bürger gegenüber anderen nicht bevorzugt oder benachteiligt und sie nicht dazu zwingt, sich selbst Gewalt anzutun.

 

Der Herrscher hat also den Auftrag bzw. die Pflicht, diese fünf Staatszwecke unter Achtung der Grundrechte der Bürger zu verfolgen. Zum Zwecke der Verfolgung dieser fünf Staatszwecke verschaffen die Bürger ihm durch ihre Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag seinen Herrschafts­anspruch. Zum Zwecke der Verfolgung dieser fünf Staatszwecke statten die Bürger den Herrscher mit Macht aus. Wenn der Herrscher seine Macht dazu verwendet, andere Zwecke zu verfolgen – wenn er beispielsweise die Macht, mit der er von den Bürgern ausgestattet wurde, dazu verwendet, andere Staaten anzugreifen – missbraucht er seine Macht. 

 

Aber auch bei der Verfolgung der fünf Staatszwecke, sind dem Herrscher Grenzen gesetzt, durch die Grundrechte. Auch wenn er die Grundrechte der Bürger verletzt, um Staatszwecke zu verfolgen, missbraucht er seine Macht. Weil der Herrscher beispielsweise keinen Bürger zwingen darf, sich selbst Gewalt anzutun, darf er niemanden gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe zwingen (Art 4 Abs. 3 GG). Tut er es dennoch, missbraucht er seine Macht selbst dann, wenn er es zum Zwecke der Verteidigung tut.

 

Fazit:

 

Grundrechte sind diejenigen Rechte, die den angehenden Staatsbürgern vor­behalten sind, wenn sie dem Gesell­schaftsvertrag zustimmen und damit auf ihr natürliches “Recht des Stärkeren” verzichten, damit alle gut leben können. 

 

Exkurs:

 

Hier stellte man mir die Frage, wer der durch Gesellschaftsvertrag eingesetzte Herrscher ist. 

 

Herrscher ist der, der durch Gesellschafts­vertrag eingesetzt ist,

 

      die Staatsform zu bestimmen[10], also

      wer Träger der Staatsgewalt ist,

      ob das Staatsoberhaupt gewählt oder gekrönt wird und 

      ob es sich um einen Einzelstaat oder um einen Bundesstaat handelt, 

      die obersten Staatsorgane und deren Aufgaben zu bestimmen, 

      grundlegende Verfahren zur Bewältigung von Konflikten zu beschließen und

      die Stellung des Bürgers im Staat zu sichern.

 

Die Gesamtheit dieser vom Souverän getroffenen Bestimmungen nennt man Verfassung. Herrscher meint also denjenigen, der durch Gesellschaftsvertrag dazu eingesetzt ist, dem Staat eine Verfassung zu geben. Ich bezeichne den Herrscher aus diesem Grunde auch als den Träger der verfassunggebenden Gewalt, als den Träger der souveränen Gewalt des Staates oder auch nur als den Souverän.

 

Der Souverän darf demnach nicht mit denen verwechselt werden, die gemeinhin als Obrigkeit bezeichnet werden. Obrigkeit meint die Träger der gesetzgebenden (legislativen), der vollziehenden (exekutiven) sowie der rechtsprechenden (judikativen) Gewalt. Obrigkeit meint demnach oberste Staatsorgane, die und deren Aufgaben in der Verfassung von demjenigen bestimmt werden, der durch Gesellschaftsvertrag dazu eingesetzt ist, dem Souverän.


Die Antwort auf die Frage, wer Souverän der Bundesrepublik Deutschland ist, gibt Art 146 GG. Das deutsche Volk. Allgemein gebräuchlich ist hierfür der Begriff Volkssouveränität.

 

 


[2] siehe Art 2 GG (persönliche Freiheitsrechte), Art 4 Abs. 1 GG (Glaubens- und Religionsfreiheit) Art 4 Abs. 2 GG  (Religionsausübungsfreiheit) Art 5 Abs. 1 GG (Meinungs-, Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit), Art 5 Abs. 3 GG (Kunst- und Wissenschaftsfreiheit), Art 6 Abs. 2 Satz 1 GG(Erziehungsrecht der Eltern) Art 7 Abs. 4 Satz 1 GG (Recht zur Errichtung privater Schulen) Art 8 Abs. 1 GG (Versammlungsfreiheit) Art 9 Abs. 1 GG (Vereinigungsfreiheit), Art 10 Abs. 1 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis), Art 11 Abs. 1 GG (Freizügigkeit), Art 12 Abs. 1 Satz 1 GG(Berufsfreiheit), Art 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art 14 Abs. 1 GG (Eigentum), Art 16 Abs 1 Satz 1 GG (Staatsangehörigkeit), Art 17 GG (Petitionsrecht), Art 19 Abs. 4 Satz 1 GG (Rechtsweg)

[3] siehe Art 3 GG, (Gleichheit vor dem Gesetz),  Art 6 Abs. 5 GG (Gleichstellung unehelicher Kinder)

[4] siehe Art 4 Abs. 3 GG (Gewissensfreiheit)

[6] siehe Artikel 1 AEMR

[7] siehe Thomas Hobbes, Leviathan, 21. Kapitel: Von der Freiheit der Staatsbürger

[8] siehe Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Erstes Buch, Zweites Kapitel Die ersten Gesellschaften

[9] Duden (zuletzt abgerufen am 03.11.2022); a. A. Wikipedia, das unzutreffenderweise meint, Gemeinwohl sei das Wohl, welches möglichst vielenMitgliedern einer Gemeinschaft zugutekommen soll (zuletzt abgerufen am 03.11.2022)

[10] Diesbezügliche Besonderheiten in der Bundesrepublik Deutschland sind noch zu erörtern.



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